Sonntag, 22. Januar 2012

28 Days Later

28 Days Later
Horror | Großbritannien 2002 | FSK 18 | Regie: Danny Boyle


Zu meinem originalen Beitrag zur Aktion Lieblingsfilm von moviepilot 2011.


„Aber als sie versuchten, die Städte zu evakuieren, war es bereits zu spät. Die Infektion war überall.”

Die Nähe am Geschehen

Danny Bolyes Meisterwerk und Endzeit-Dystopie verleiht ein wahnsinniges Gefühl der Einsamkeit und Hilflosigkeit – ganz besonders in den zehn bedeutenden und ebenso ruhigen wie aufwühlenden Minuten zu Beginn des Films, die ein emotionales und gedankliches Einfühlen in die Endzeitsgeschichte perfekt erlauben. Danny Boyle gelingt es auf ganz faszinierende Weise, mit seinem Film so gekonnt durch die Realität des Gesamtentwurfes in den Zuschauer einzudringen und mit wahnsinnig gewaltigen Bildern das Gefühl zu verschaffen, als erlebe man ein derart grässliches Endzeits-Phänomen selbst mit. Und das mit einer durchdachten Rollenverteilung: Während Jim genau wie wir in die unbegreifliche Leere hineingeworfen wird, ist Selena die trocken, unemotional denkende Überlebenskünstlerin [„Mehr als zu überleben ist nicht drin.“] und Frank trägt die gutwillige Vaterfigur seiner pubertierenden Tochter Hannah. Weit entfernt von typischen Horrorfilmfigurenkonstellationen mit Muskelshirtteenies und Kondomen. Noch eine Ebene weiter geht Boyle mit der Charakterwende zum Finale [Achtung Spoiler]: Nachdem Selene und Jim sich ihre Liebe gestehen, heißt es „Pläne sind doch nicht zwecklos.“ Hoffnung regiert. [Spoiler Ende] Diese Momente der Zuversicht gibt es im Film ständig, was ihm zu einem so lebendigen Film macht.

Der Aufschrei nach Frieden

Was Danny Boyle uns hier aber zu sagen hat, ist kritischer als ein mancher diesem Meisterwerk aus Horror, Furcht und Hoffnung zutrauen würde: Er kreiert nichts anderes als einen gellenden Aufschrei nach Frieden, indem er uns unser (un)menschliches Treiben auf dieser Erde wie einen Spiegel vor die Augen hält: Er zeigt uns unsere eigenen Taten in den Infizierten. In einer Szene heißt es: „Was ich während der vier Wochen der Epidemie sah, war: Menschen töten Menschen. Genauso wie ich es in den vier Wochen vor der Epidemie sah, und in denen davor, und in denen davor.“ Der Mensch tötet Menschen, ob „infiziert“ oder nicht. Und wo töten wir mehr als im Krieg? Auch, dass das „Versuchsobjekt“ der Soldaten, das Aufklärung über die Infektion bringen soll, ein Schwarzer ist, erinnert an die Sklavenzeit in Amerika. Danny Boyle überträgt nichts anderes als unser grässliches Kriegen und Morden auf jene grässlichen, mordenden Infizierten. Es ist eigentlich keine Infizierung, es ist das, was der Mensch immer tat, nur, dass es nun „nicht mehr im Fernsehen war; es war draußen auf der Straße, es kam durch dein Fenster.“ Beeindruckend ist auch die ständig erwähnte Frage nach der Antwort auf die Infektion, nach welcher die Protagonisten auf der Suche sind. Die Hauptfiguren kennen sie bis zum Schluss nicht, der Zuschauer allerdings schon: Erinnern wir uns an den Anfang des Films, wo alles mit den Tierversuchen begann. Die Tiere wurden aus Forschungszwecken mit Wut infiziert. Die Folge dieses fragwürdigen Experiments zeigt der Film; eine weitere Kritik Boyles. Und an dieser Stelle zeichnet er ein ganz expressives Weltbild: Der Mensch gehört schon lange nicht mehr zur Natur, er lebt gegen sie, er ist sinnlos, er existiert nur für eine Weile, dann wird er aussterben. Das hoffnungsvolle Ende, welches ja nahezu im Gegensatz zu diesem Kern steht, lässt in all dem Fatalismus jedoch ein letztes Mal Boyles bekannten Optimismus aufblühen: Noch haben wir die Chance.

Der Überlebenstrieb

Ganz klar konnte nicht auf horrende und sehr verstörende Szenen verzichtet werden, denn '28 Days Later' ist für mich nicht zuletzt einer der furchterregendsten Horrorfilme seit langem. Ob es nun nur allein die schaurigen Schreie der Infizierten sind, die bangenden Minuten gefangen im Tunnel aufgrund einer Reifenpanne, währenddessen jene Schreie und Schatten der Infizierten schon zu hören und sehen sind, der Aufstand gegen die Männer vom Militär oder allein die erschreckend schaurige Atmosphäre des leeren Londons. Aber nicht das macht den Film zu dem, was er ist, sondern seine Geschichte, die er erzählt, oder vielmehr die Art und Weise, wie er sie erzählt. Die grässliche, schaurige Brutalität hätte absolut keine so überwältigende Wirkung, wenn '28 Days Later' nicht so emotional und menschlich sowie gesellschaftlich tief greifen würde, und andersrum genauso. Hinzu kommt, dass Boyles Meisterwerk keine Halloween-Zombie-Geschichte auf die Beine hebt, sondern das Geschehen realistisch – so weit dies möglich war – und menschlich nachvollziehbar darstellt, auch wenn die ethischen Grenzen schon bald überschritten sind. Denn genau das ist es, was '28 Days Later' uns sagen möchte: den alles andere als puritanischen „Alltag” eines Lebens in einer Epidemie. Die Moral überschreiten. Der starre Kampf ums eigene Überleben. Über Leichen gehen – diesmal beinahe wörtlich genommen. Der Blick in das verlorene Innere eines Menschen, der ohne Regierung, ohne Schutz und ohne Zukunft lebt; der Überlebenstrieb; ein Trieb nach Sicherheit und der Sehnsucht nach Zivilisation. 

„Hör zu: Wenn jemand infiziert wird hat man zwischen 10 und 20 Sekunden Zeit um ihn zu töten. Es mag dein Bruder, deine Schwester oder dein bester Freund sein, es macht keinen Unterschied.“

Der Horrorfilm in seiner Perfektion

Die Bildgewaltigkeit und der ergreifende Score von John Murphy schaffen eine bewegende Atmosphäre. Nicht nur, dass diese von düster, schaurig, grauenhaft auf bedrückend, aussichtslos und deprimierend wechselt, sondern auch immer wieder auf hoffnungsvoll und optimistisch wie in den Szenen auf dem Weg nach Manchester und dem Ave Maria im Hintergrund, auf dem sie die zwar seelenlose, aber völlig friedliche Natur hier draußen und „gesunde“ Pferde beobachten, was im heftigen Kontrast zum Rest der Welt steht und es hier beinahe wie das Paradies wirkt – nach dem Gedanken, dass die Natur auch ohne uns existiert. Nur einige Minuten später sieht man in Jims Albtraum, wie sehr die Seuche auf die Seele drückt: er verarbeitet die Angst vor der Einsamkeit, vorm Alleingelassenwerden der letzten Zivilisation. 
In keinem anderen Horrorfilm gibt es ein vergleichbares, tief unter die Haut gehendes Gefühls- und Emotionsspektakel zu sehen und vor allem zu fühlen wie in Danny Boyles '28 Days Later'. Wie der Film einen mit einem „Was wäre, wenn …”-Gefühl fängt, verlässt er einen mit einem „Was wäre, wenn es SO wäre …”-Gefühl und spielt einen weiteren wundervollen Soundtrack ein. 



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